Es gibt wohl kaum ein innerdeutsches Thema, bei dem in den letzten Jahren so viel und so heftig diskutiert wurde wie zum Fall zu Guttenbergs. Und vor allem keins, bei dem außer ein paar Plagiatsopfern niemand persönlich betroffen war. Auch wenn zuletzt wichtigere Themen zu Recht in den Vordergrund gerückt sind, ist eine Hinterlassenschaft dieses Konflikts eine verschärfte Lagertrennung. All dies, obwohl der Ausgangspunkt selber völlig unstrittig ist: Des ehemaligen Ministers Dissertation enthält eine Vielzahl von abgekupferten Stellen. An der Bewertung jedoch spaltet sich das Land: Guttenberg wahlweise als mit Gänsefüßchen ans Kreuz genagelter Märtyrer oder als blendender Betrüger, dessen hohe Stapel zusammengekracht sind.
In diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass Gruppenidentitäten im Kern dieses Konfliktes stehen und warum das offizielle Urteil der Universität Bayreuth ein wichtiges Ereignis sein wird, während ich in einem folgenden Beitrag argumentiere, dass die Politik zur Vermeidung von Konflikten viel von der institutionellen Weisheit unseres Rechtssystems lernen kann.
Wir wissen aus der Sozialpsychologie (und die Evolutionsbiologie gibt uns mögliche Gründe dafür), dass Menschen erstens eine hohe Neigung haben, sich Gruppen zugehörig zu fühlen und sich auch entsprechend zu verhalten. Im Labor funktioniert dies selbst bei völlig willkürlichen Unterscheidungskriterien wie einer Vorliebe für entweder Klee oder Kandinsky Gemälde. Wir fühlen uns Teil vieler Gruppen. Wie wichtig die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ist, hängt davon ab, wie sehr diese Gruppenunterscheidung in einem bestimmten Moment im Fokus steht. Wenn das Ruhrderby Schalke – Dortmund näher rückt, wird die örtliche Zugehörigkeit (Gelsenkirchen oder Dortmund) in der sozialen Identität ungleich wichtiger relativ zu anderen Kriterien wie Religion, Alter, Beruf usw. Dagegen können bei einem Länderspiel sich auch die meisten Lokalrivalen gemeinsam über einen Sieg über England freuen. Wettkampf um etwas ist besonders geeignet, soziale Identität zu verstärken, weil eine Gruppe gegen eine andere antritt und es nichts gemeinsam zu gewinnen gibt. Das zeigt sich auch in der politischen Strategie, über einen äußeren Feind Unterstützung im Inneren zu erhalten: der Film „wag the dog“ parodiert dies wunderbar.
Gruppenidentitäten verstärken sich auch, wenn eine Handlung der anderen Seite als Angriff wahrgenommen wird. Wichtiger als die Handlung selber ist die dahinter vermutete Absicht. Ein versehentliches Zusammenstoßen endet normalerweise in einer gegenseitigen Entschuldigung, während ein offensichtlich absichtlicher Anrempler des Bodybuilders im Muskelshirt meist keine gute Idee ist. Oft jedoch sind die Absichten alles andere als klar und müssen interpretiert werden. Hierbei ist Gruppenzugehörigkeit unsere Brille. Mitglieder einer anderen Gruppe können im Gegensatz zu Mitgliedern der eigenen Gruppe dabei nicht mit „im Zweifel für den Angeklagten“ rechnen, insbesondere dann, wenn die Gruppen ohnehin im Konflikt stehen.
Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg als Symbol, Projektionsfläche und beliebtester Politiker Deutschlands sowie der Fall „Dissertation“ eignen sich vielfältig als Trennscheide: konservative Regierung gegen linke Opposition, arrogante Akademiker gegen den einfachen Mann von der Straße, Adels- oder Glamourfans versus Bildungsbürgertum, südlich versus nördlich vom Weißwurstäquator, BILD gegen den Rest. Der Ort des ursprünglichen Vorwurfs wiederum macht es dem Gutttenberg-Lager leicht einen feindlichen Angriff zu sehen: ein linker (und angeblich sogar aus diesem Lager beauftragter) Professor aus Bremen. Und natürlich war es dann die linke Opposition, die zu Guttenberg unter Beschuss genommen hat. Die Gegenangriffe zielten so auch vielfach auf die Motive der Gegenseite im Sinne von: „Die konnten ihm politisch nichts und dann haben sie so lange im Dreck gewühlt, bis sie irgendwas gefunden haben: fehlende Fußnoten!“ Und sicher ging es der Opposition im Bundestag auch mehr um KTs Skalp als um die Rettung guter wissenschaftlicher Praxis oder um den Erhalt des Vertrauens in die Glaubwürdigkeit von Politikern. Wenn die Gruppenidentitäten so erst einmal geschärft sind, bleibt vom eigentlichen Sachverhalt wenig über; stattdessen wird getrennt in Freund und Feind, der Sieg im politischen Kampf ist das Ziel und Durchhalten daher eine Tugend (wir erinnern uns an die "fränkische Wettertanne"). Die Angriffe der Opposition waren für zu Guttenbergs politisches Überleben daher eher förderlich.
Was ich damit zeigen will, ist, dass eskalierende Konflikte angesichts der Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten keine Überraschung sind. Überraschend ist für mich eher, wie es uns fast immer gelingt, Konflikte – vor allem die, bei denen viel mehr auf dem Spiel steht – ohne Eskalation zu regeln. Eine notwendige Voraussetzung hierfür sind Akteure, deren Einflussnahme nicht als weiterer Angriff der Gegenseite interpretiert wird. Im Fall Guttenberg waren dies neben Politikern aus den eigenen Reihen vor allem Prof. Dr. Lepsius, der Lehrstuhlnachfolger des Doktorvaters, und später natürlich der Doktorvater selber: Prof. Dr. Häberle. Als selbst der eigene Doktorvater sich tief enttäuscht zeigte und ein (augenscheinlich konservativer) bayrischer Juraprofessor Guttenberg offen als Betrüger bezeichnete, wurde der Druck auf ihn zu groß. So wird auch klar, warum er nun versucht hat, sich gegen die Veröffentlichung des Berichts der Universität Bayreuth zu wehren, obwohl die vorsätzliche Täuschung eigentlich offenkundig ist (Gerichte haben regelmäßig selbst bei weit weniger schweren Plagiatsfällen so entschieden). Ein offizieller Beschluss infolge eines mit fairen Regeln abgelaufenen Verfahrens durch ein Gremium, das man (anders als vielleicht bei Guttenplag) nicht der Gegenseite zuschreiben kann, wird zu Guttenbergs Anhängern die letzte Möglichkeit rauben zu glauben, dass hier einem Mann, auf dessen Ehrenwort Verlass ist, einfach nur ein Fehler unterlaufen ist. Ende April ist es soweit. Ich denke, dass KT dann aufhören wird Deutschlands beliebtester Politiker zu sein.